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Unterwegs

Marche – unbekanntes Italien

Palazzo ducale Urbino
Herzogspalast in Urbino: in der Stadt nahm die Renaissance ihren Anfang.

Dolce far’ niente! Das Programm unserer ersten Ferienwoche. Alles kennen wir schon, das familiäre Abahotel in Milano Marittima mit seiner ausgezeichneten Küche, direkt am Sandstrand beim von Stefano geführten Bagno Pino. Morgens gehe ich früh aus den Federn, mein Tag beginnt jeweils mit einem Espresso an der Hotelbar und einem Spaziergang am Strand mit meinen beiden italienischen Freundinnen, wenn die Sonne langsam über den Horizont steigt und uns begrüsst.

Die Mosaike in Ravenna bewundern Bernard und ich auch dieses Jahr wieder. Ein anderer Ausflug führt uns morgens früh per Velo in den Hafen von Cervia, zu den Fischern, die vom nächtlichen Fang zurückkehren. Sie berichten uns, dass es immer weniger Fische gibt und das Wasser der Adria mit ca. 25°C. viel zu warm ist.

Unser Feriendomizil für die nächsten 2 Wochen liegt in der wenig touristischen Provinz Marken. Von Milano Marittima fahren wir ca. 110 km südlich, dann ins Landesinnere nach Osteria, einem Dorfteil von Serra de’ Conti.

Die Landschaft ist nie eben in den Marken, es geht immer rauf oder runter. Auf vielen Hügeln stehen aus Backsteinen erbaute mittelalterliche Hügeldörfer. Es gibt viel Landwirtschaft in den Marken: Olivenhaine, Rebberge, Mais und Sonnenblumen. Dazwischen fallen uns immer wieder Felder von Sonnenkollektoren auf. Der historische Dorfkern von Serra de’ Conti liegt auch auf einem Hügel, es gibt 2 Klöster, 2 Kirchen, eine Take-away-Pizzeria, eine Café-Bar und einen kleinen Lebensmittelladen. In allen diesen gut erhaltenen und gepflegten Dörfern, die wir besuchen, befinden sich modernere Geschäfte und Gebäude am Fuss des Hügels. Die Altstadt ist ziemlich leer. Restaurants gibt es kaum, zum Glück hat unsere Wohnung eine gut eingerichtete Küche, denn das einzige Restaurant in der Gegend hat Betriebsferien ☹

Noch nie haben wir so viele Klöster und Kirchen besucht wie hier. In den Hügeldörfern Arcevia, Barbara und Corinaldo bestaunen wir auch gut erhaltene Paläste aus dem 17./18. Jh. und Schlösser. Corinaldo wurde 2007 zum schönsten Dorf Italiens gewählt, seine spektakuläre Stadtmauer ist noch vollständig erhalten. Hier finden wir sogar ein Restaurant und essen herrliche Spaghetti Vongole, dazu ein Glas des typischen, erfrischenden Weissweins Verdicchio.

Unsere Wohnung im Casa de Heidi ist sehr gross. Wir verstehen uns bestens mit den sympatischen Eltern unserer Vermieterin Stefania, die im selben Haus wohnen und mit den Nachbarn des Quartiers. Es ist uns wohl und wir fühlen uns wie zu Hause. Wenn die Gelateria auf Rädern jeden Donnerstag ins Quartier kommt, und der Gemüsewagen am Freitag, kaufen wir auch da ein.

Auch für jene, die schon viele Stalagmiten und Stalaktiten gesehen haben, lohnt sich ein Besuch der 1971 entdeckten, imposanten Grotte di Frasassi (siehe Fotos unten). Die Tropfsteine ragen viele Meter in die Höhe oder von der Decke in die Tiefe, in der grössten Grotte hätte der Dom von Milano Platz!

Urbino, jung und lebendig, ist die schönste Stadt der Marken. Sie beherbergt eine der ersten Universitäten Europas, an dieser sind auch heute noch mehr Studenten eingeschrieben, als es Einwohner gibt in der Stadt. Dank dem Herzog Federico Montefeltro und seiner Frau Battista Sforza wird Urbino die Wiege der Renaissance. Es ist die Geburtsstadt des Malers Raffael (1483-1520). In der Nationalgalerie, die sich im eindrücklichen Renaissancebau des Palazzo Duccale (Herzogenpalast) befindet, bewundern wir eines seiner lieblichen, harmonischen Gemälde.

Unser Feriendorf Serra de’ Conti, ist zentral zwischen Meer und Appennin gelegen. Ein Bad im Meer in Senigallia und danach ein Apéro an der Bagno-Bar ist nur ein Katzensprung (25km).

Die Provinzhauptstadt Ancona wollen wir mit dem Zug von der kleinen Stadt Jesi aus besuchen. Weil am Bahnhof kein Schalter offen ist, studieren wir den Billetautomaten von TreniItalia. Ohne TreniItalia-Debit- oder italienischer Gesundheitskarte müssten wir so viele Infos über uns eingeben (für 1/2 Stunde Zugfahrt!), dass wir es sein lassen. Am Busbahnhof funktioniert der Automat nicht und ein Webkonto für ein Online-Billet wollen wir nicht eröffnen. Unseren Frust trinken wir mit einen feinen Espresso weg, fahren wieder heim und planen unsere nächsten Ausflüge. Am späteren Nachmittag beginnt zu regnen.

Der Regen wird immer stärker, ein Wolkenbruch mit Donner und Blitzen — und es hört nicht mehr auf, während mehr als 4 Stunden folgt ein Donner dem andern. Niemand hier hat je so etwas erlebt (das erzählen uns die Nachbarn nachher). Irgendwann sitzen wir im Dunkeln, TV und Internet fallen aus. Im Garten bricht ein Teil einer Mauer weg, sonst fliessen Wasser und Schlamm ab, weil das Haus auf einer kleinen Anhöhe steht. Gegen 23 Uhr beruhigt sich alles, aber wir ahnen, dass das Unwetter nicht überall so glimpflich abgelaufen ist.

Am nächsten Morgen zeigen die Medien Bilder von grossen Verwüstungen. 10 Menschen sind in Ancona umgekommen, mehrere sind vermisst, darunter auch Stefanias Freundin, die vom Bach mitgerissen wurde. Präsident Draghi ruft die Marken zum Notstandsgebiet aus. Wir sind froh, dass unser Ausflug nach Ancona nicht geklappt hat und helfen im Quartier beim Schlammputzen. In den Medien fragt man sich auch, wieso es keinen Unwetteralarm gegeben hat? Meteo Italia erklärt, dass es unmöglich war, des Gewitter vorauszusehen, weil es sich um selbstgenerierte Gewitterzellen handelte, die blockiert waren, und dass kein Modell sie voraussehen kann.

Am 2. Tag nach dem Unwetter schauen wir uns unsere Gegend an und stellen das Ausmass der Schäden fest: Erdrutsche, verschüttete Strassen und Felder, überall wird Schlamm weggeputzt, vor vielen Häusern im Talboden stehen Berge von schlammigen Möbeln und Hausrat. Immer wieder müssen wir neue Wege suchen und improvisieren. Als vor unserem Auto ein grosser Ast auf die Strasse fällt, haben wir genug, wir kehren heim und streichen die für die nächsten Tage geplanten Ausflüge.

Ich kann Bernard schliesslich zum Wandern bewegen. Im Nachbardorf Mortale plaudern wir mit dem Geranten des Circolo ACLI (associazioni cristiane lavoraori italiani). Er erzählt, dass er früher in Zürich gearbeitet hat, auf einem System, auf dem auch Bernard tätig war. Dann streckt er uns plötzlich seine Arme entgegen und sagt: «Ich habe Hühnerhaut, weil ich so glücklich bin, einen ‹Kollegen› getroffen zu haben», und er lädt uns zum Café in seinem Lokal ein.

An unserem letzten Ferientag essen wir im Restaurant in Serra de’ Conti, die Betriebsferien sind zu Ende 😊. Ich komme nun doch noch in den Genuss, die Spezialität aus Ancona, Oliven all’ascolana zu probieren. Als Antipasto stellt mir der Kellner einen riesigen Teller mit grossen, mit Hackfleisch gefüllten und frittierten Oliven hin. Sie sind sehr fein und sehr, sehr mastig. In der Nacht muss ich dann im schon für die Rückreise verstauten Gepäck die Reiseapotheke mit dem Zeller Balsam hervorholen.

Der Abschied von Stefanias lieben Eltern fällt uns nicht leicht. Wir wünschen ihnen alles Beste für die Zukunft — und sie geben uns noch ein 2-Liter-Flasche von ihrem exzellenten eigenen Olivenöl mit.

Wir reisen in 2 Tagen heim, übernachten in Aosta, im guten und originell eingerichteten Hotel Omama. Abends essen wir im originellen Bistrot La vache folle, hier dreht sich alles um die Kuh. Nach dem guten Essen staunen wir: auf jeden Tisch werden 3 Flaschen Likör des Hauses (28-,40- und 55%ig) gestellt, à discrétion. Wir beginnen mit dem 28%-igen und probieren von jedem ein Gläschen — und lachen viel dabei.

Die Marken sind ein Geheimtipp für Italienreisende. Zwischen den Bergen und den Sandstränden an der Adria laden die zahlreichen mittelalterlichen Hügeldörfer zu einem Spaziergang in eine vergangene Zeit ein. Die Menschen sind offen und immer zu einem kleinen Schwatz bereit. Trotz den schlimmen Unwettern haben wir einen angenehmen und bereichernden Aufenthalt verbracht.